Digitalisierung ist „in“ und Organisationen müssen lernen, um zu überleben. Also liegt es nahe, den Wissenstransfer aus den Köpfen der Mitarbeiter hinein in formale Strukturen ebenfalls zu digitalisieren. Aber führt das nicht zur Verdummung der Organisation?
Dr. Wolfgang Karrlein
Das Thema Lernen, um sich auf neue Situationen im Markt oder im Unternehmen einzustellen, ist ein immer wiederkehrendes Thema in unseren Projekten. Lernen ist mit Veränderung und Adaption aufs Engste verbunden.
Da Unternehmen und Organisationen durch die ganze Digitalisierungswelle auf Veränderung, Effizienz und Effektivität getrimmt werden, spielt digitales Lernen in Organisationen natürlich eine Rolle. Nur ist digitales Lernen der richtige und/oder einzige Weg? Welche Folgen kann eine, wie auch immer geartete, Digitalisierung des Lernens für Organisationen und ihre Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren und mit der heutigen Dynamik umzugehen, haben?
Eine falsch verstandene oder mangelhaft durchgeführte Digitalisierung des Lernens kann zum Gegenteil von dem führen, was man eigentlich erreichen möchte. Oder provokant formuliert: Digitales Lernen macht Unternehmen dumm.
Dazu im Folgenden und in den beiden nächsten Blogbeiträgen einige Gedanken:
Daten – Information – Wissen?
Eine wesentliche Fragestellung ist: Was ist Wissen eigentlich und wie unterscheidet es sich von Information und reinen Daten?
Ohne hier eine allzu strenge oder gar wissenschaftliche Definition zu geben: Der Wert und auch der Aufwand, diesen zu nutzen, steigt von links nach rechts. Daten sind Daten – also erst einmal tote Bits und Bytes. Durch eine Selektion anhand bestimmter Kriterien wird aus diesen die Information extrahiert. Das sind dann nicht mehr nur Rohdaten, denn diese wurden aufgearbeitet und in Beziehung zueinander gebracht. Um aus der Information Wissen werden zu lassen, benötigt es noch Anwendung und Praxiserfahrung. Wissen ist also eine Art „geronnene Erfahrung“. Erst dieses Wissen kann auf unbekannte, aber ähnliche, Situationen übertragen werden.
Ein Dilemma stellt nun schon die Selektion dar: Einerseits muss selektiert werden, da sonst die Menge an Daten zu groß ist, um etwas zu erkennen. Erst durch eine Sinnzuweisung, und etwas anderes ist die Selektion nicht, erhalten die Rohdaten den Status einer Information, die benutzbar ist. Aber: Mit jeder Selektion werden unvermeidlich Daten ausgeblendet und damit geht auch Information verloren. Dies ist ein immerwährendes Dilemma, mit dem man umgehen muss.
Wie lernt eine Organisation überhaupt?
Es sind zunächst einmal die Individuen in einer Organisation, also die Mitarbeiter, die etwas lernen und Erfahrungen sammeln und nicht die Organisationen selbst. Damit sind das Wissen und die Erfahrung an diese Personen gebunden und verlassen jeden Abend die Organisation – und kehren am nächsten Morgen dorthin zurück. Streng genommen hat die Organisation als solche nichts gelernt.
Es sind nur die in ihr arbeitenden Menschen, die jetzt mehr wissen und die mehr Erfahrungen gesammelt haben. Und dieses Wissen und diese Erfahrung bringen sie in ihre Arbeit ein. Oder, bei demotivierenden Arbeitsbedingungen, eben nicht. Dann ist das Gelernte sprichwörtlich nur physikalisch anwesend, leistet aber keinen Beitrag.
Organisationen können für sich nur dadurch lernen, dass sie Wissen und Erfahrungen, das sich in den Köpfen der Menschen befindet, aus diesen Köpfen herausholt und es in Geschäftsmodelle, Strukturen, Regeln, Anweisungen, Prozesse, SoP und Ähnliches transferiert. Auf diese Weise wird das Wissen formalisiert und damit überhaupt erst von den wissenden und erfahrenen Personen unabhängig und für andere in der Organisation nutzbar und bleibt bei Weggang des oder der Wissenden erhalten.
Mumifiziert erfolgreiches Lernen die Organisation?
Damit gerät die Organisation aber in ein weiteres Dilemma. Denn durch den aufwändigen Prozess des organisationalen Lernens – also der Übertragung aus den Köpfen in formale Strukturen – wird dieses Wissen zwar konserviert und breiter nutzbar, aber auch schwerer zu verändern. Dieser Prozess kostet Ressourcen, Kraft, Zeit und Geld, denn es muss meist gegen einmal Gelerntes angegangen werden und Befürchtungen und Barrieren überwunden werden. Der Vorgang geschieht auch nicht von heute auf morgen – wer schon einmal versucht hat, veränderte Vorgehensweisen, beispielsweise mit einem neuen Customer-Relationship-Management-(CRM-)System, flächendeckend einzuführen, weiß was das bedeutet: die Arbeitsanweisung ist schnell geschrieben – das reale danach Handeln dauert deutlich länger.
Das Lernen von Organisationen bedeutet ein teilweise heftiges Investment: Daher werden auch der Unmut über die stetige Anpassung und die Widerstände gegen das Um- und Neulernen kontinuierlich größer und stärker. Je erfolgreicher und umfassender der vorhergehende Lernprozess war, desto fester sind die Strukturen, die Machtverhältnisse, die Glaubenssätze und Überzeugungen ausgeprägt. Damit steht die Organisation sich selbst massiv im Weg. Kurz gesagt: Ist ein Lernprozess der Organisation erfolgreich abgeschlossen, erschwert dies den Erfolg des nächsten.
Fortsetzung folgt!
In diesem Beitrag haben wir beschrieben, dass Lernen und Erfahrung etwas sehr Individuelles sind. Das daraus gewonnene Wissen kann nur dann für Organisationen nutzbar gemacht werden, wenn es in formale Vorgaben gepresst wird. Die beiden folgenden Blogbeiträge gehen dann auf die Frage ein, was Digitalisierung im Kontext von Lernen eigentlich bedeutet und warum digitales Lernen problematisch sein kann und nicht selten zur Verblödung einer Organisation beitragen wird.