Selbstorganisation fördern und lernende Organisationen schaffen. Das zu erreichen verspricht die Working Out Loud-Methode. Aber klappt das immer und überall?
Dr. Wolfgang Karrlein
Von vielen als „The Next Big Thing“ gehandelt, verspricht Working Out Loud (WOL) Unterstützung bei der Vermeidung verschiedener Schwächen von Organisationen. Dabei soll die Methode
- die Fähigkeit zur Selbstorganisation fördern,
- die digitale Transformation voranbringen,
- das Silodenken aufbrechen,
- Empowerment ermöglichen und
- eine lernende Organisation schaffen.
Judith Muster und Jens Kapitzky haben in ihrem hochinteressanten Artikel „Working Out Loud: Zu viel Euphorie um einen Hype“ drei Thesen aufgestellt, mit denen sie die Grenzen dieses Ansatzes skizzieren – denn die existieren trotz aller positiven Wirkungen.
- These 1: WOL ermöglicht es den Akteuren, informal anders zu arbeiten – lässt die formalen Organisationsstrukturen aber unverändert.
- These 2: WOL fördert cross-funktionale Zusammenarbeit – aber es ist kein Gegenentwurf zur Arbeitsteilung.
- These 3: Die Hierarchie muss WOL absichern – aber sie darf WOL nicht als Feigenblatt für schlechtes Management benutzen.
Zusammengefasst: Der WOL-Ansatz entbindet die Führungspersonen nicht davon, dass sie in ihrem Führungshandeln und durch ihre Arbeit an den Organisationsstrukturen Verantwortung wahrnehmen.
Zwei Fallbeispiele aus der Praxis
Ein kurzer Blick hinter die Kulissen zweier Fälle soll die Relevanz dieser Thesen unterstreichen. Der erste Fall zeigt mögliche Gründe auf, warum trotz WOL die Wirkungen begrenzt blieben. Der zweite Fall demonstriert, wie es gelingen kann, dass die positiven Impulse aufgenommen und in die Struktur- und Führungsarbeit eingebracht werden konnten.
Auslöser in beiden Fällen war der Wunsch, manche Dinge, die sich im konkreten Handeln und in der Kultur zeigten, zum Besseren zu verändern. Im ersten Fall sollte das Business Model stärker umgesetzt werden, das beim Zusammenschluss zweier Unternehmen definiert worden war. Im Alltag funktionierte dieses Model oft nicht und führte zur Unzufriedenheit und zu teils großen Spannungen zwischen den unterschiedlichen Abteilungen und Akteuren.
Im zweiten Fall herrschten trotz guter wirtschaftlicher Situation eine große Unsicherheit und Unzufriedenheit. Die Spannungen zwischen Abteilungen waren zum Teil aufgrund hoher Arbeitsverdichtung gewaltig, man schob Verantwortung hin und her und beschuldigte sich gegenseitig mangelnder Kooperationsbereitschaft. Das Management konnte die Vorgänge und Entwicklungen schwer greifen. Jeder glaubte, dass in seinem Bereich alles in Ordnung wäre und sah diese deshalb als Ausnahme an.
In beiden Fällen wurde eine Vorgehensweise gewählt, die dem WOL-Ansatz entspricht. Cross-funktionale Teams aus allen Teilen der Organisation sollten und durften für eine Zeit von circa 3 Monaten an selbst definierten Themen arbeiten. Sie waren gehalten, aus ihrer Perspektive Ideen und Konzepte entwickeln, von denen sie sich eine verbesserte Zusammenarbeit in der Organisation versprechen würden. Dafür gab es keine Vorgaben und keine Denkverbote. Aufgabe des mittleren und oberen Managements war es, dem „tone to the top“ zuzuhören und sich aus dem Prozess weitgehend herauszuhalten. Der Ideenfindungsprozess sollte nicht von oben beeinflusst und das selbststeuernde Element des Ansatzes gefördert werden. Abteilungsinteressen und Machtspiele sollten in diesem Prozess nicht (zu) wirksam werden.
Es wurde deutlich gemacht, dass das Top-Management hinter dieser Vorgehensweise steht und sie unterstützt. Damit verbunden war die klare Erwartung, dass den Teilnehmern von deren Führungspersonen keine Steine in den Weg gelegt werden sollten. Ebenso war klar, dass das Engagement der Beteiligten nicht zu Lasten der „normalen Arbeit“ gehen durfte. Deshalb war die Teilnahme und die Mitwirkung jedes Einzelnen freiwillig – die Resonanz und die Einsatzfreude waren dessen ungeachtet groß.
Die gewünschte Wirkung wird nicht immer erreicht
Rückblickend betrachtet war die Wirkung über die WOL-Phase hinaus unterschiedlich. Dies unterstreicht die Bedeutung der drei Thesen von Muster/ Kapitzky, vor allem der Dritten. In beiden Fällen
- wurden die Strukturen der Organisation nicht verändert und
- erarbeiteten die Gruppen pragmatische Ideen und Vorschläge, wie die Zusammenarbeit und bestimmte Schwachpunkte in den Organisationen verbessert werden konnten.
Wie ging es dann weiter? Wie ging man mit den konkreten Ideen und Konzepten um? Was waren die Wirkungen auf längere Sicht?
Auch wenn im ersten Fall die Ziele, die mit dem WOL-Ansatz verfolgt wurden, auf der Arbeitsebene durchaus festgestellt werden konnten: Der Zweck, dem Business Model zu mehr Leben und mehr Kooperation zu verhelfen, wurde nicht erreicht. Der Grund lag dabei nicht bei einer mangelnden Bereitschaft auf der Arbeitsebene. Deren Bereitschaft und Motivation zu übergreifender Zusammenarbeit wurde in den Gruppen recht deutlich und wirkte stellenweise über die eigentliche WOL-Phase hinaus weiter, weil „man sich ja nun besser kannte“.
Denn die unveränderbaren Abteilungsziele und das Führungspersonal auf den unterschiedlichen Managementebenen entfalteten eine zu starke Wirkung. Die Ziele waren viel zu sehr auf Partikularinteressen abgestellt. Sie waren im Rahmen des Zusammengehens von denselben Führungspersonen durchgesetzt worden, die noch immer diese Positionen innehatten. Das alles sorgte dafür, dass die vom Business Model beabsichtigten Prozesse und Abläufe nicht wirksam wurden. Das Top-Management konnte oder wollte an den Zielen und Personen keine entscheidenden Veränderungen vornehmen – oder sah schlicht diese Wirkzusammenhänge nicht. Man nutzte (gewollt oder ungewollt) den WOL-Ansatz, um sich selbst und nach außen zu signalisieren, wie sehr man in die Kultur investiert, um den Zusammenschluss auch auf dieser Ebene zum Abschluss zu bringen. Die eigentlich notwendige Arbeit an den tatsächlichen Widersprüchlichkeiten in der Struktur und der Steuerung der Organisation wurde dabei ausgeblendet.
Machtspiele müssen in den Hintergrund
Im zweiten Fall wurden die Ideen aus den Gruppen aufgenommen und als Projekte in die auch hier unveränderte Struktur überführt. Dadurch wurden viele Anregungen und Vorschläge dedizierten Führungspersonen und Abteilungen überantwortet. Damit aber nichts durch Widerstände und (Macht)Interessen verwässert werden oder in der Schublade verschwinden konnte, traf man flankierend weitere Schutzmaßnahmen:
- Die Themen waren über die nächsten beiden Jahre fester Bestandteil der Leitungsrunde, in der die verantwortlichen Führungspersonen über die Entwicklung und Umsetzung berichteten.
- Die Teilnehmer der WOL-Gruppen standen als Sparringspartner immer wieder zur Verfügung. Die Führungspersonen und diejenigen, die mit der Realisierung betraut worden waren, waren dadurch im Austausch mit den eigentlichen Ideengebern. Damit wurde der Erwartungsdruck hinsichtlich der Umsetzung aufrecht erhalten.
- Der Organisation wurde auch nach der WOL-Phase immer wieder der Stand der Initiativen berichtet.
Nicht alle Vorschläge wurden letztlich umgesetzt. Manche erfuhren eine Weiterentwicklung, so dass sie in der Organisation wirksam werden konnten. Bei anderen war eine schnelle Umsetzung möglich. In letzter Konsequenz gelang es, durch die Zurechenbarkeit auf der Managementebene und durch die Öffentlichkeit der Vorgänge überzeugend zu demonstrieren, wie mit den entwickelten Konzepten umgegangen wurde.
Beide Fälle bestätigen die eingangs erwähnten Thesen. Es ist möglich, die vom WOL-Ansatz verfolgten Ziele zu erreichen und damit wertvolle Impulse für die Organisation zu setzen. Dafür ist entscheidend, dass „von oben“ für die wesentlichen Rahmenbedingungen gesorgt wird. Für einen längerfristigen Effekt kommt man aber nicht darum herum, dass das Management seiner Aufgabe nachkommt, an der Struktur zu arbeiten. Dies kann der WOL-Ansatz alleine nicht leisten.