Wissenschaft und Führung – die Furcht vor dem Monday-Morning-Quarterback

Immer wieder ist derzeit zu hören und zu lesen, dass sich die Wissenschaftler „einig werden sollen“. Es geht, wie Vieles in diesen Wochen, um neue und sich wandelnde Erkenntnisse über das Virus Sars-CoV-2. Was mich besonders irritiert, ist die Vermischung zweiter Aspekte: die Rolle und Funktionsweise von Wissenschaft und das Wesen der Führung

Aspekt 1: Wissenschaft funktioniert über Falsifikation

Wissenschaft funktioniert über Falsifikation. Man stellt Fragen an die Natur (in dem Fall an das Zusammenspiel im System Virus und Mensch), erklärt sich die Antworten (aus Experimenten, Studien, Klinik) mittels einer damit passenden Vorstellung. Diese gilt eben nur, bis andere Ergebnisse vorliegen, die einen (nach gründlicher Prüfung) dazu bewegen, dass man seine Vorstellung anpassen oder sogar revidieren muss, um die alten und neuen Ergebnisse zu erklären. Wissenschaft „erzeugt“ also Erkenntnisse, die immer unter dem „Verdacht“ stehen, dass es auch anders sein könnte, aber bis dahin das aktuelle Wissen gilt.

Aspekt 2: Führung gibt Orientierung für das Handeln

Führung bedeutet, Entscheidungen in kritischen Situationen zu treffen, um Orientierung für das Handeln zu geben. Kritische Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass es keine Blaupause, erprobte Verfahren, vorherige Erfahrungen, etc. gibt, nach denen man sich richten könnte. In einer solchen unsicheren Situation koordiniertes Handeln zu erzeugen, bedeutet, unter Unsicherheiten Entscheidungen zu treffen (sich für Nichtstun zu entscheiden ist dabei auch eine Entscheidung). Wenn sich der Entscheidung andere anschließen (weil Vertrauen herrscht, weil man verstanden hat, was die Überlegungen und Unwägbarkeiten sind, weil man es auch nicht besser weiß, weil sich der Entscheider durchsetzt), hat man einen Führungsimpuls gesetzt und für Gefolgschaft gesorgt. Führungsentscheidungen werden also im Nachhinein betrachtet werden, wie sie gewirkt habe – kann das aber zum Zeitpunkt des Entscheidens eben nicht wissen. „Hinterher ist man schlauer“, sagt der Monday-Morning-Quarterback[1].

Entscheiden unter Unsicherheit ist das Wesen der Führung. Solche Orientierung wird in Organisationen und anderen hierarchisch strukturierten Systemen von den „Oberen“ erwartet, auch wenn sie nicht selten auch anderswo erfolgt.

Wenn man nun (beispielsweise von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fächern, Medizinern) verlangt, dass sie sich endlich „einig werden“ sollen, dann verkennt man das Wesen und den Erkenntnisprozess von (Natur-)Wissenschaft. Sie kann lediglich – wenn man sie und sie sich selbst ernst nehmen will – darlegen, was der gegenwärtige Stand der Erkenntnis und der darauf basierenden Modellvorstellungen ist.

Daraus lassen sich mögliche Handlungen ableiten, Empfehlungen aussprechen – diese aber sind dann nicht mehr Teil des wissenschaftlichen Diskurses und spiegeln im Zweifel die Perspektive der Fachrichtung und des Ausschnitts wider, aus dem die Wissenschaftlerin die Ergebnisse deutet. Diese kann sich – insbesondere, wenn es sich um etwas Unbekanntes und durch einen dynamischen Forschungsprozess Gekennzeichnetes handelt – schnell verändern. Es kommen neue Ergebnisse dazu, die die bisherigen Handlungsempfehlungen in neuem Licht erscheinen lassen. Bevor ein Erkenntnisgewinn steht, müssen sich neue Ergebnissen der Überprüfung stellen. Wissenschaft ist ein sachorientierter Kommunikationsprozess, der Zeit braucht. Er kollidiert damit in Situationen wie der aktuellen Pandemie mit der Notwenigkeit, zu Entscheidungen zu kommen.

Personen, die auf Grund ihrer Position in der Situation sind, dass man von ihnen Orientierung (also Entscheidungen) erwartet, müssen mehr (so wie aktuell) oder weniger mit der Unsicherheit leben, dass man morgen im Lichte neuer Ergebnisse zum Ergebnis kommt, dass eine andere Entscheidung (rückblickend!) besser, effektiver oder smarter gewesen wäre. Es nutzt nur nichts, wenn man heute entscheiden muss und sich dabei nur auf das stützen kann, was man heute weiß.

Und täglich grüßt der Monday-Morning-Quarterback

Wenn nun der eine oder die andere darauf hinweist, dass man ihm oder ihr eine sich immer wieder veränderte Faktenlage präsentieren, die ein modifiziertes oder sogar anderes Handeln nahe liegen würden, als man vor einer Woche als geboten darstellte, drückt das die Unsicherheit der Entscheider über die Unsicherheit aus, was „richtig“ ist. Sie denken daran, dass sie sich in der Zukunft rechtfertigen müssen, wie sie zu der oder jener Entscheidung gekommen sind.

Denen, die neue Ergebnisse und daraus folgende mögliche Entscheidungsmöglichkeiten und Konsequenzen darlegen, vorzuhalten, dass man von ihnen keine verlässliche und stabile Grundlage erhält, bedeutet seine Führungsrolle abzugeben. Es wirkt, als wolle man die Verantwortung auf andere übergeben, wenn sich die eigene Entscheidung hinterher als problematisch darstellt und man sich rechtfertigen muss, was einen in der Situation zu der und nicht zu einer anderen Entscheidung geführt hat. Das ist aber keine Führung.

Man darf sich entscheiden, die (Zwischen-)Erkenntnisse von Naturwissenschaftlern als nur eine Perspektive zu sehen, die Sichtweise und Schwerpunkte von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern stärker einzubeziehen, die Erfahrungen von Kliniken und Ärzten zu berücksichtigen oder die Wünsche unterschiedlicher Interessensgruppe stärker oder schwächer zu gewichten, daraus eine „mittlere“ Richtung vorzugeben oder abzuwarten. Man darf unterschiedliche Meinungen haben, die man in den Diskurs stellen kann. Man darf auf Grund der Ergebnisse und Interessen zu verschiedenen Entscheidungen kommen, für diese werben, sie verständlich machen, versuchen, sie durchzusetzen.

Aber von jemand, der die Rolle hat, aus einem dynamischen Forschungsprozess, Erkenntnisse zu gewinnen, sie zu prüfen, darauf basierend Empfehlungen auszusprechen, stabile nicht mehr veränderliche Entscheidungsgrundlagen zu bekommen (sich also zu einigen), damit man dann „nur“ noch entscheiden muss, was sie gesagt haben, bedeutet (mindestens zum Teil) eine Aufgabe der Führungsverantwortung.

[1] Das Oxford English Dictionary definiert dem „Monday-Morning-Quarterback“ als eine Person, die im Nachhinein ein Urteil fällt und etwas kritisiert.

Dr. Wolfgang Karrlein