Ein Leben ohne Präsenzen ist möglich, aber sinnlos (nach Loriot)

In der FAZ von heute, erschien ein Debattenbeitrag zur digitalen versus Präsenzlehre [1]. Ein wesentlicher Punkt dabei: das Virtuelle und Digitale wird – so der Autor – so sehr normativ aufgeladen. Lehrst du noch – oder zoomst du schon? Aber nicht nur in der akademischen Welt wird der Austausch unter Abwesenden teilweise als das „bessere“ und „moderner“ Format propagiert. Meetest du noch – oder teamst du schon?

Wenn dies von Anbietern entsprechender Plattformen kommt – klar und nachvollziehbar. Wenn Anbieter von Beratungsdienstleistungen und Seminaren schnell ihre Formate virtualisieren, weil die Präsenzform erst einmal nicht erlaubt ist – auch klar. Wo oft nahezu 100% der Aufträge abgesagt oder auf den Sanktnimmerleinstag verschoben ist, wäre man ja doof, die wenigen investitionsbereiten Kunden zu bedienen. Deckungsbeiträge sind ein kaum zu widerlegendes Argument.

Wenn aber der Austausch unter Anwesenden unter Antiquitäts- und Ewiggestrigseinverdacht gestellt wird – schüttet man ein Kind mit dem Bade aus und beginnt fest daran zu glauben, was man auf der Schauseite ja durchaus in der aktuellen Situation ausstellen kann. Man kann und sollte sicherlich die zwangsweise recht schnell genutzten live-online Formate als weitere (nun mehr akzeptierte) Optionen für Austausch sehen. Mit Ton und Video, nur mit Ton, mit oder ohne Interaktionen – alle Formate und vor allem Toos haben ihre Eigenheiten [2] und damit Wirkungen auf und für den Austausch, wie Kai Matthiesen und Jonas Spengler [3] herausgearbeitet haben. Warum nicht nutzen, wenn’s passend gestaltet werden kann und die Intentionen ausreichend fördert.

Nur sollte man den dabei nicht vergessen, dass der Austausch unter Anwesenden eben auch (und schon viel länger von Menschen eingeübt) wertvolle Eigenheiten hat. Die hohe Synchronizität – Wahrnehmung vieler averbaler Signalen, kurze Ablenkungen zur Entspannung, ohne aus dem „Call“ auszusteigen, unmittelbares, auch von mehreren Anwesenden gleichzeitig eingeworfene Ergänzungen, Anmerkungen, etc. – erzeugt durchaus mehr Energie für Diskurse, Austausch von Erfahrungen, voneinander Lernen, als es in den live-online Formaten möglich ist.

Noch einmal: die live-online Formate sind nicht schlechter oder besser, sondern anders und sollten schlicht nicht als (einziger) moderner Ersatz für Begegnungen und Austausch „in real life“ gesetzt werden. Auch wenn ich keine umfangreichen Erhebungen gemacht habe, es scheint so zu sein, dass in Unternehmen spürbar wird, was an nützlicher Informalität verloren geht, wenn man sich nur mehr virtuell austauscht. Offensichtlich wurde vorher viel abgefedert, abgeräumt, abgeklärt und abgestimmt, was jetzt durch die Virtualisierung des Austausches spürbar wird. Offensichtlich lässt sich da etwas nur schwer in die virtuelle Welt von Abwesenden verlagern. Insofern finde ich die beginnende „Wiederentdeckung des Physischen“ [4] sehr wertvoll. Oder um Loriot auszuleihen: Ein Leben ohne Präsenzen ist möglich, aber sinnlos [5].

[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/praesenzlehre-gegen-digitalen-unterricht-hoert-auf-zu-moralisieren-16817864.html?premium (online; €; aufgerufen am 18.6.20)

[2] Stefan Kühl: Jeder lacht für sich allein (PDF) (aufgerufen am 18.6.20)

[3] Kai Matthiesen, Jonas Spengler: Verständigung mit Nicht-Anwesenden. Was leisten digitale Formate. In: Organisationsentwicklung (2020), 2, S.31–35.

[4] Reinhard K. Sprenger: Drei wesentliche Wiederentdeckungen. In: managerSeminare (2020), 267, S. 30-31

[5] Loriot: „Gesammelte Prosa“, Diogenes, Zürich 2006