Warum finden viele Unternehmen Digitalisierung kompliziert?

Digitalisierung ist ein Schlagwort, das unterschiedlichste Bedeutungen besitzen kann. Big Data, Vernetzung, Industrie 4.0 und vieles mehr werden damit assoziiert. Und damit beginnen die Komplikationen.

Dr. Wolfgang Karrlein

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Digitales Lernen ist für Organisationen gefährlich

Daten sind kein Wissen, digitales Lernen ist kein eindeutiger Begriff und in Organisationen lernen immer Menschen. Soweit so gut. Aber warum wird digitales Lernen Organisationen womöglich sogar gefährlich? Dieser Beitrag erläutert die Hintergründe.

Dr. Wolfgang Karrlein

Im ersten Teil unseres Blogbeitrags haben wir uns unter der Überschrift „Werden Organisationen durch digitales Lernen dumm?“ damit beschäftigt, was Wissen überhaupt ist und wie es sich von Daten und Information abgrenzt, wie Organisationen lernen und sind am Schluss der Frage nachgegangen, ob erfolgreiches Lernen die Organisation mumifiziert. Im zweiten Teil gingen wir unter dem Titel „Was bedeutet Digitalisierung im Kontext von Lernen?“ der Frage nach, was unter dem Begriff „digitales Lernen“ zu verstehen ist und wie es auf die Organisations- und Individualebene wirkt.

In diesem letzten Beitrag geht es um die Frage, warum digitales Lernen problematisch sein kann und warum es Organisationen nicht selten dumm macht. Aber was sind die Gründe dafür? Ein Hauptgrund ist, dass alle digitalen Ansätze einige weniger offensichtliche Effekte und Nebenwirkungen aufweisen:

Analoges Lernen in der Gemeinschaft erzielt oftmals eine größere Wirkung als digitale Formate, bei denen der Lernende allein vor dem Bildschirm sitzt. Bild zeigt eine Gruppe gemeinsam Lernender an einem Tisch. (Bild: Celemi)

Analoges Lernen in der Gemeinschaft erzielt oftmals eine größere Wirkung als digitale Formate, bei denen der Lernende allein vor dem Bildschirm sitzt. (Bild: Celemi)

Wie schon beim im zweiten Teil erläuterten organisationalen Lernen entsteht ein Formalisierungsdruck und Organisationen geraten damit in eine dem dort aufgezeigten Dilemma sehr ähnliche Zwickmühle. Denn für die Aus- und Weiterbildungen müssen Inhalte festgelegt und in eine didaktisch-digitale Form überführt werden. Dadurch werden sie aber entschieden stärker formalisiert und festgeschrieben, als dies bei interpersonellen Formaten der Fall wäre.

Besonders deutlich wird sich das bei Themen auswirken, die nicht auf faktisches Lernen wie technische Tatsachen abzielen. Es gibt Online-Trainings für den Umgang mit Mitarbeitern, zum Beispiel, wie Vorgesetzte Kritik anbringen können. Dabei existieren für den „Dialog“ mit dem Untergebenen immer wieder verschiedene Möglichkeiten für die Ansprache. Je nach Auswahl „reagiert“ der Angesprochene, also der Computer, dann – mal im Sinne eines Annehmens der Kritik oder einer Zurückweisung oder mit Zwischenlösungen. Letztlich sind diese.

Ansprachemöglichkeiten ebenso wie die Reaktionen vorgegeben. Einmal abgesehen davon, dass es für die Visualisierung zur Wiedergabe von Gesichtsausdrücken und Emotionen schon sehr gute Animationen gibt, ist der leibhaftige Umgang mit Menschen aber etwas Anderes.

Auswahl führt zu Blindheit

Bei digitalen Formaten ist stets ein stärkerer Auswahlprozess der Inhalte nötig, als bei klassischen analogen Formaten, die den Lerninhalt durch reale Personen vermitteln. Es muss also jemand entscheiden, welche Themen in das digitale Lernformat aufgenommen werden, und welche nicht. Im Extremfall führt das dazu, dass alle Lernenden, die diese Formate nutzen, blind für Aspekte werden, die es nicht in das Training geschafft haben.

Damit ist hier das Dilemma gegeben, dass durch diesen Selektionsprozess Entscheidungen über die Durchgängigkeit des Lernens getroffen werden. Ich erkaufe mir also die in den ersten beiden Teilen des Beitrags skizzierten Vorteile der digitalen Formate mit einer stärkeren und im Zweifel wirkmächtigeren Selektion, was das Mitglied einer Organisation lernt und was nicht.

Ob und wie sich die Verfechter zunehmender digitaler Lernformate diesem Dilemma bewusst sind, werden die nächsten Jahre zeigen.

Vereinzelung steht dem Erfolg im Weg

Es gibt noch einen zweiten Wirkungsaspekt des digitalen Lernens: Der Erwerb von Wissen wird immer mehr individualisiert und vereinzelt – und erfolgt damit weitgehend ohne einen Diskurs, einer Diskussion oder einem Erfahrungsaustausch zwischen Personen. Somit geht ein wesentlicher Bestandteil verloren, wie bei Menschen wirkliches Lernen und das Sammeln von Erfahrungen geschieht.

Bevor ich darauf weiter eingehe, sollte noch kurz eine andere Komponente, die durch diese „Vereinzelung des Lernens“ für die Organisation verfügbar wird, erläutert werden. Indem ich den Lernprozess über Systeme planbar mache, die Formate so gestalte, dass jeder nach seiner Façon lernen kann, und auch noch einen abschließenden Wissenstest einbaue, bekommt die Organisation viele Argumente an die Hand, im Zweifel drauf hinzuweisen, dass man ja alles für optimale Lernbedingungen unternommen hat.

Wenn es dennoch nicht reicht, der Lernerfolg also in der Realität nicht erkennbar wird, dann kann es nur mehr an der Person selbst liegen. Die Schuld für Lernversagen scheint so auf beste Weise auf die Einzelperson überzugehen.

Zurück zur schon erwähnten Wirkung der Vereinzelung, beziehungsweise dem immer stärkeren Wegfall des Austausches mit anderen beim Lernen und der eigenen Erfahrungsgewinnung. Es gibt aus vielen, teilweise weltweiten Untersuchungen der Lehr-Lern-Forschung an Schulen deutliche Hinweise, dass das „digitale Klassenzimmer“ nicht automatisch zu einem besseren Wissenserwerb führt: 2008 veröffentlichte John Hattie in seinem Buch „Visible Learning: a synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement“[1] eine Metastudie, in der er an die 200 Einflussgrößen für einen gelingenden Unterricht auflistet, darunter circa 20 mit digitalen Aspekten zusammenhängende Faktoren.

So schneiden dort beispielsweise visuelle und audiovisuelle Methoden und webbasiertes Lernen in der Wirksamkeit deutlich unterdurchschnittlich ab. Der Einsatz von PowerPoint oder andere Visualisierungssoftware wirkt sich also kaum auf den Lernerfolg aus. Der Grund ist, dass sich Zuhörer meist stärker auf die Folien fokussieren als auf den Vortragenden. Damit ist generell die Gefahr größer, dass wichtige Informationen verloren gehen.

In der 2014 veröffentlichten Studie „The Pen is Mightier Than the Keyboard“[2]zeigen die Autoren Pam A. Mueller und Daniel M. Oppenheimer, dass die Nutzung von Computern für den Lerneffekt überschätzt ist. Ein Kernergebnis ist, dass Menschen sich Gehörtes besser zu merken scheinen, wenn sie schreiben, anstatt zu tippen.

Selbst abgesehen von diesen Erkenntnissen aus Schulen, die, um es vorsichtig zu formulieren, vielleicht nur eingeschränkt übertragbar sein könnten, nimmt die Vereinzelung des Lernens in Organisationen durch digitale Formate dem Erfahrungsgewinn eine wesentliche Komponente weg: den kommunikativen Austausch zwischen Menschen.

Digitales Lernen ist sehr formalisiert, eben digital. Diese Art der Unterrichtsführung blendet Aspekte aus, gibt systembedingte Rahmen vor, die nicht verlassen werden können. Es selektiert. Organisationen leben aber von der Kommunikation. Führung ist Kommunikation. Führen heißt Entscheidungen produzieren. Und Führen meint nicht nur die formale disziplinarische Führung, sondern auch temporäres oder situatives Führen zum Beispiel in Projekten.

Lernen und Erfahrungsaufbau ist letztendlich ein individueller Vorgang. Aber die Verarbeitung, der Aufbau mentaler Modelle, die Verankerung des Wissens und die Vielfalt der Themen ist ein interaktiver Prozess, der am besten zusammen mit anderen Menschen gelingt.

Daher besteht das Risiko einer falschen, weil zu stark fokussierten, Ausrichtung auf digitales Lernen, die nicht nur zu einer organisationellen Inflexibilität führen kann, sondern auch zu einer Verarmung auf der individuellen Ebene.

Was bedeutet das für Organisationen?

Die wesentliche Folgerung heißt: Genau hinschauen, welche Inhalte gelernt werden sollen. Keine Frage: Für manchen Lehrstoff ist ein digitales Format gut geeignet. Nur sollte die Entscheidung nicht ausschließlich aus Effizienzgründen erfolgen. Sondern es gilt zu bedenken, was letztlich das Ziel des Lernens sein soll. Wie soll am Ende das neue Wissen in Erfahrung umgewandelt werden, wofür soll es realiter von den Menschen genutzt werden?

Auch sollte man im Auge haben, dass ein mehr an Information nicht damit verwechselt werden darf, dass die Menschen diese Informationen automatisch in zumindest ähnlicher Weise verstehen. Wie bewerten sie die Informationen? Welche Relevanz geben sie sie ihnen? Wie setzen sie neue Informationen mit anderweitigem Wissen, auch dem anderer Menschen, in Verbindung?

Je dynamischer das Umfeld einer Organisation wird, umso stärker wirken sich die unvermeidlichen Dilemmata des digitalen Lernens auf die Anpassungsfähigkeit und die Offenheit für Ent-Lernen und Neu-Lernen aus. Durch intensiven Austausch gemeinsames Verständnis aufzubauen steht im Mittelpunkt. Und dieser Austausch gelingt nur mittels Kommunikation realer und persönlich anwesender Menschen im Diskurs.

Wird dies nicht beachtet, fällt zwangsweise zu viel Wissen aufgrund des bei digitalem Lernen notwendigen Selektionsprozesses unter den Tisch und geht somit verloren. Das Ergebnis: Die Organisation ist trotz Lernens dümmer als zuvor.

[1] John A.C. Hattie (2008): Visible Learning: a synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London, New York: Routledge.

[2] Mueller, Pam A. und Oppenheimer, Daniel M. (2014): The Pen is Mightier Than the Keyboard. Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking.In: Psychological Science, 25. Jahrgang, / Heft 6, S. 1159-1168

Werden Organisationen durch digitales Lernen dumm?

Digitalisierung ist „in“ und Organisationen müssen lernen, um zu überleben. Also liegt es nahe, den Wissenstransfer aus den Köpfen der Mitarbeiter hinein in formale Strukturen ebenfalls zu digitalisieren. Aber führt das nicht zur Verdummung der Organisation?

Dr. Wolfgang Karrlein

Das Thema Lernen, um sich auf neue Situationen im Markt oder im Unternehmen einzustellen, ist ein immer wiederkehrendes Thema in unseren Projekten. Lernen ist mit Veränderung und Adaption aufs Engste verbunden.

Teilnehmer einer Besprechung am Tisch. Im Hintergrund ist ein digitales Gesicht mit Daten zu sehen.

Daten sind noch keine Information und Information noch kenn Wissen. Erst der Mensch kann zusammen mit Erfahrung aus Informationen Wissen generieren. (Bild: iStock.com/FangXiaNuo & iStock.com/monsitj)

Da Unternehmen und Organisationen durch die ganze Digitalisierungswelle auf Veränderung, Effizienz und Effektivität getrimmt werden, spielt digitales Lernen in Organisationen natürlich eine Rolle. Nur ist digitales Lernen der richtige und/oder einzige Weg? Welche Folgen kann eine, wie auch immer geartete, Digitalisierung des Lernens für Organisationen und ihre Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren und mit der heutigen Dynamik umzugehen, haben?

Eine falsch verstandene oder mangelhaft durchgeführte Digitalisierung des Lernens kann zum Gegenteil von dem führen, was man eigentlich erreichen möchte. Oder provokant formuliert: Digitales Lernen macht Unternehmen dumm.

Dazu im Folgenden und in den beiden nächsten Blogbeiträgen einige Gedanken:

Daten – Information – Wissen?

Eine wesentliche Fragestellung ist: Was ist Wissen eigentlich und wie unterscheidet es sich von Information und reinen Daten?

Ohne hier eine allzu strenge oder gar wissenschaftliche Definition zu geben: Der Wert und auch der Aufwand, diesen zu nutzen, steigt von links nach rechts. Daten sind Daten – also erst einmal tote Bits und Bytes. Durch eine Selektion anhand bestimmter Kriterien wird aus diesen die Information extrahiert. Das sind dann nicht mehr nur Rohdaten, denn diese wurden aufgearbeitet und in Beziehung zueinander gebracht. Um aus der Information Wissen werden zu lassen, benötigt es noch Anwendung und Praxiserfahrung. Wissen ist also eine Art „geronnene Erfahrung“. Erst dieses Wissen kann auf unbekannte, aber ähnliche, Situationen übertragen werden.

Ein Dilemma stellt nun schon die Selektion dar: Einerseits muss selektiert werden, da sonst die Menge an Daten zu groß ist, um etwas zu erkennen. Erst durch eine Sinnzuweisung, und etwas anderes ist die Selektion nicht, erhalten die Rohdaten den Status einer Information, die benutzbar ist. Aber: Mit jeder Selektion werden unvermeidlich Daten ausgeblendet und damit geht auch Information verloren. Dies ist ein immerwährendes Dilemma, mit dem man umgehen muss.

Wie lernt eine Organisation überhaupt?

Es sind zunächst einmal die Individuen in einer Organisation, also die Mitarbeiter, die etwas lernen und Erfahrungen sammeln und nicht die Organisationen selbst. Damit sind das Wissen und die Erfahrung an diese Personen gebunden und verlassen jeden Abend die Organisation – und kehren am nächsten Morgen dorthin zurück. Streng genommen hat die Organisation als solche nichts gelernt.

Teilnehmer einer Besprechung am Tisch. Oberhalb ist ein stilisiertes Gehirn zu sehen.

Erst wenn das Wissen aus den Köpfen der Menschen formalisiert wurde, hat die Organisation als solche etwas gelernt (Bild: iStock.com/FangXiaNuo & iStock.com/iLexx).

Es sind nur die in ihr arbeitenden Menschen, die jetzt mehr wissen und die mehr Erfahrungen gesammelt haben. Und dieses Wissen und diese Erfahrung bringen sie in ihre Arbeit ein. Oder, bei demotivierenden Arbeitsbedingungen, eben nicht. Dann ist das Gelernte sprichwörtlich nur physikalisch anwesend, leistet aber keinen Beitrag.

Organisationen können für sich nur dadurch lernen, dass sie Wissen und Erfahrungen, das sich in den Köpfen der Menschen befindet, aus diesen Köpfen herausholt und es in Geschäftsmodelle, Strukturen, Regeln, Anweisungen, Prozesse, SoP und Ähnliches transferiert. Auf diese Weise wird das Wissen formalisiert und damit überhaupt erst von den wissenden und erfahrenen Personen unabhängig und für andere in der Organisation nutzbar und bleibt bei Weggang des oder der Wissenden erhalten.

Mumifiziert erfolgreiches Lernen die Organisation?

Damit gerät die Organisation aber in ein weiteres Dilemma. Denn durch den aufwändigen Prozess des organisationalen Lernens – also der Übertragung aus den Köpfen in formale Strukturen – wird dieses Wissen zwar konserviert und breiter nutzbar, aber auch schwerer zu verändern. Dieser Prozess kostet Ressourcen, Kraft, Zeit und Geld, denn es muss meist gegen einmal Gelerntes angegangen werden und Befürchtungen und Barrieren überwunden werden. Der Vorgang geschieht auch nicht von heute auf morgen – wer schon einmal versucht hat, veränderte Vorgehensweisen, beispielsweise mit einem neuen Customer-Relationship-Management-(CRM-)System, flächendeckend einzuführen, weiß was das bedeutet: die Arbeitsanweisung ist schnell geschrieben – das reale danach Handeln dauert deutlich länger.

Das Lernen von Organisationen bedeutet ein teilweise heftiges Investment: Daher werden auch der Unmut über die stetige Anpassung und die Widerstände gegen das Um- und Neulernen kontinuierlich größer und stärker. Je erfolgreicher und umfassender der vorhergehende Lernprozess war, desto fester sind die Strukturen, die Machtverhältnisse, die Glaubenssätze und Überzeugungen ausgeprägt. Damit steht die Organisation sich selbst massiv im Weg. Kurz gesagt: Ist ein Lernprozess der Organisation erfolgreich abgeschlossen, erschwert dies den Erfolg des nächsten.

Fortsetzung folgt!

In diesem Beitrag haben wir beschrieben, dass Lernen und Erfahrung etwas sehr Individuelles sind. Das daraus gewonnene Wissen kann nur dann für Organisationen nutzbar gemacht werden, wenn es in formale Vorgaben gepresst wird. Die beiden folgenden Blogbeiträge gehen dann auf die Frage ein, was Digitalisierung im Kontext von Lernen eigentlich bedeutet und warum digitales Lernen problematisch sein kann und nicht selten zur Verblödung einer Organisation beitragen wird.